Multiplier Event in Mainz

Between March 2 and 3 the second multiplier event of CovHer is going to be held in Mainz

Opening Speech_ Susanne Weissman EU Project CoVHer | Mulitplier Event_03.03.2023

Lebe Ehrengäste

  • Dr. Heike Otto; Generaldirektorin der GDKE (Generaldirektion Kulturelles Erbe)
  • Prof. Dr. Peter Haslinger, Direktor des Herder-Instituts für historische
    Ostmitteleuropaforschung
  • Prof. Dr. Wolfgang Dobras, Leiter Stadtarchiv Mainz,
  • Dr. Ulf Sölter, Direktor des Gutenberg-Museums Mainz),

liebe Kolleginnen und Kollegen,
Sehr geehrte Damen und Herren,
Ich freue mich sehr, Sie alle hier bei der ersten Veranstaltung begrüßen zu dürfen, an der das Projekt CoVHer der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Anspruch des Projektes sind sowohl Standards zu schaffen, nach denen 3D-Rekonstruktionen von historischen Gebäuden nach wissenschaftlichen Kriterien erstellt und dokumentiert werden, als auch diese Standards zu vermitteln. Doch wozu ist es wichtig, diese Fähigkeit Identifizierung von wissenschaftlich fundierten Informationen zu vermitteln?

Die fortschreitende Digitalisierung eröffnet uns nicht nur viele neue
Möglichkeiten, sie stellt uns auch vor große Herausforderungen, sowohl
gesamtgesellschaftlich als auch die Wissenschaft selbst

Als das Internet – angefeuert vom 1989 erfundenen World Wide Web – in den
1990er-Jahren seinen Siegeszug begann, war wahrscheinlich den wenigsten
Menschen klar, welche Macht es irgendwann ausüben würde. Nicht nur auf
unseren Alltag – Beruf, Unterhaltung, Kommunikation, Konsum – sondern auch
auf Politik. Die Möglichkeit, innerhalb von Minuten zehntausende oder
hunderttausende Menschen zu erreichen und zu mobilisieren, gab es in dieser
Form noch nie. Aufstände können über Twitter organisiert werden,
Augenzeugenberichte erreichen schneller mehr Menschen als journalistisch
aufgearbeitete Artikel. Und eventuell zensierte Berichte und Fake News können
Staatschef:innen machen oder stürzen.

Der freie Zugang zu Verfügbarkeit von Wissen und Ressourcen, aus denen neue
Erzählungen gebildet und wiederum frei zur Verfügung gestellt werden, birgt
damit eben auch Gefahren: Ohne wissenschaftliche Vorgehensweise – dazu zähle
ich explizit die Dokumentation der Genese des Wissens, die Quellen-Angabe, den
Verweis auf und die Unterscheidung von Fakten und Ableitungen aus diesen
Fakten – ohne all dies können Informationen nicht reproduziert werden.

Auch die Corona-Pandemie hat uns in den vergangenen Jahren einmal mehr allzu
deutlich gemacht: Die Verfügbarkeit von Informationen im Netz ist Fluch und
Segen: Ich kann mich über den Pandemie-Verlauf, Impffolgen und Statistiken
online informieren – und finde hierzu einschlägige wissenschaftlich Erkenntnisse
– ich kann aber genau so leicht in ein „Rabbit Hole“ fallen und mein Weltbild und
Verstehen der Welt auf wissenschaftlich nicht fundierten Informationen
aufbauen

Die 3D-Rekonstruktion ist eine relativ neue Methode, mit der
Wissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen ein Bild der Vergangenheit
zeichnen. Aber wie auch in anderen Gebieten der Wissenschaft, ist es heute
nahezu jeder und jedem Interessierten mit einem leistungsstarken Rechner
möglich, eigene Informationen zu verarbeiten – in diesem Falle eigene
Rekonstruktionen herzustellen. Das Internet ist voller Tutorials, Programme
werden als Open Source kostenfrei zur Verfügung gestellt. Dadurch eröffnen sich
viele neue Möglichkeiten und Gelegenheiten, die Gesellschaft in den
wissenschaftlichen Diskurs einzubinden und Science Citizenship weiter
voranzutreiben. Jedoch können hier auch historisch nicht korrekte
Rekonstruktionen entstehen, die jedoch dann unsere Wahrnehmung der
Vergangenheit prägen können – selbst wenn dies an sich gar nicht beabsichtigt
gewesen sein sollte.

Auch in unserem Alltag sind wir umgeben von visuellen Rekonstruktionen der
Vergangenheit: In Filmen, die längst durch Computertechnik hergestellte,
„künstliche“ Bilder angereichert werden, die das menschliche Auge zunehmend
weniger als solche erkennen kann, aber auch in Spielen wie bspw. Assassin’s
Creed (obwohl ich mir habe sagen lassen, dass bspw. Ubisoft um möglichst
historisch korrekte Welten abzubilden in der Tat auf wissenschaftliche Expertise
zurück greif).

Doch welche Relevanz hat diese Verwechslung wissenschaftlicher Erkenntnisse
mit unwissenschaftlichen Erzählungen ausgerechnet im Bereich 3DRekonstruktion? Schließlich trifft hier ja niemand eine für die Gesamtgesellschaft
möglicherweise folgenschwere Entscheidung für oder gegen das Impfen, sondern
hat maximal eine „falsche“, ggf. romantische Vorstellung der Vergangenheit.

Ich möchte mich hier auf Aleida Assmann und Jan Assmann beziehen, die –
basierend auf den Theorien von Maurice Halbwachs – den Begriff des Kulturellen
Gedächtnisses geprägt haben: Dieses bezeichnen sie als „die Tradition in uns, die
über Generationen, in jahrhunderte-, ja jahrtausendelanger Wiederholung
gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein,
unser Selbst- und Weltbild prägen.“ Erinnerungen sind also immer in einen
sozialen und kulturellen Kontext eingebettet und auch durch diesen geprägt.
Aleida und Jan Assmann definieren das kulturelle Gedächtnis weiterhin als einen
dynamischen Prozess der Erinnerung, in dem Menschen durch Kultur und Sprache
eine gemeinsame Vorstellung von Vergangenheit aufrechterhalten und
weitergeben. Das kulturelle Gedächtnis ist daher ein wichtiger Bestandteil der
Identität und Kultur einer Gesellschaft. Die Geschichten, die wir uns über unsere
Herkunft, unsere Vergangenheit erzählen, prägen also auch unsere Gegenwart
und Zukunft.

Erinnerungen aber sind leicht manipulier- und veränderbar. Versuche in der
Gedächtnispsychologie haben immer wieder gezeigt, dass es möglich ist,
individuelle Erinnerungen zu fälschen und – insbesondere durch die Anreicherung
mit Bildern – konnten Menschen davon überzeugt werden, Dinge selbst erlebt zu
haben, die sie nie erlebt haben. Die modernen Methoden der Bildgebung machen
es zunehmend schwierig, Gefälschtes von der Wahrheit zu unterscheiden.
Sogenannte Deep Fakes werden zur Beeinflussung politischer Prozesse
missbraucht, es werden Wählerstimmen beeinflusst, Machtverhältnisse
verschoben.

Geschichtsschreibung war es Gang und Gäbe, dass Usurpatoren die Geschichte
konkret änderten, Inschriften neu schreiben ließen, um sich in einer langen
Tradition stehend darzustellen und sich dadurch zu legitimieren. Und spätestens
seit dem 20. Jahrhundert befasst sich auch die Belletristik in dystopischen
Romanen mit den Gefahren manipulierter Wahrheiten und Realitäten –
verwiesen sei hier bspw. auf den Roman 1984 von George Orwell. Die dort
beschriebenen Horror-Szenarien, dass autoritäre Regime gezielt
Desinformationen streuen, die Vergangenheit neu zeichnen, um die Gegenwart
zu kontrollieren und ihre Macht zu erhalten, sind längst Wirklichkeit geworden.

Die Umschreibung von Vergangenheit geschieht dabei eben nicht nur in Worten
– die Verzerrung der Wirklichkeit kann einfach durch Bilder und visuelle (Re-
)Konstruktionen äußerst fruchtbar unterstützt werden (Macht der Bilder).

Diese Bilder prägen also unsere Vorstellungen der Vergangenheit, unsere
Wahrnehmung der Gegenwart – unser kulturelles Gedächtnis. Hier stellt sich
auch zunehmend die Frage, in welche Richtung der Einfluss geht: Wurde zum
Beispiel das Land von Westeros in Game of Thrones nach unserer Vorstellung von
Mittelalter geprägt, oder prägt nun nicht auch die in der Serie abgebildete Welt
unsere Vorstellung vom Mittelalter?

Die unreflektierte und uninformierte Verwendung nicht-wissenschaftlicher
Informationen kann im schlimmsten Fall zu einer Verzerrung oder
Falschdarstellung von Vergangenheit führen, was wiederum negative
Auswirkungen auf die Gesellschaft und unser kulturelles Gedächtnis haben kann
(Geschichtsverzerrung, Verbreitung von Fehlinformationen, Polarisierung und
Spaltung der Gesellschaft).

Die Rolle der Wissenschaft muss also weiterhin, bei sich ändernden
technologischen Möglichkeiten, wissenschaftlich fundierte Geschichte zu
schreiben und eine Basis wissenschaftlicher Methoden und Praktiken zu schaffen,
um eine möglichst genaue und objektive Vorstellung von Vergangenheit
schreiben zu können, die unser kulturelles Gedächtnis stärkt und uns hilft, unsere
Gesellschaft zu verstehen und zu verbessern.

Dies soll keineswegs der Fantasie ihren Wert absprechen – und die objektive
Wirklichkeit und die Fantasie können vielleicht als die beiden Pole eines
Spektrums verstanden werden. Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist
jedoch genau dies unsere Aufgabe: Die von uns erzählten Geschichten auf diesem
Spektrum möglichst in Richtung der objektiven Wahrheit zu positionieren, die
Welt in objektivierbare Bilder zu gießen und klar zu benennen, wo auf diesem
Spektrum von Objektivierbarkeit und Fantasie unsere Aussagen angesiedelt sind.

Wie und wann ist also zukünftig zwischen wissenschaftlich fundierten
Rekonstruktionen der Vergangenheit – sei es in Bild oder Wort – und vielleicht
fantasievollen und künstlerisch hochwertig gemachten Rekonstruktionen zu
unterscheiden?

Neben der Unterstützung und Ausbildung digitaler Kompetenzen, sind auch daher
die Schaffung von Standards und die Kommunikation dieser Standards erklärte
Ziele des Projektes. Diese Standards werden dabei helfen, zu erkennen, ob eine
Rekonstruktion unseres materiellen Erbes auf wissenschaftlich fundierten
Erkenntnissen beruht oder ob es sich hier um ein „schönes“, der Fantasie
entspringendes Bild handelt.

Das Projekt CoVHer bildet hier ein Paradebeispiel für diesen Anspruch: Hier
werden Standards geschaffen, mit deren Hilfe die Quellen der Rekonstruktionen
objektiv nachverfolgbar und wissenschaftlich prüfbar werden. Diese Methoden
der Objektivierung und wissenschaftlichen Arbeit werden darüber hinaus in Lehrund Lernformate gegossen, um diese für die Beurteilung der Wirklichkeit
wichtigen Fähigkeiten weiter zu verbreiten.